Der Krieg in der Ukraine hat Millionen Menschen in die Flucht getrieben. Vielen von ihnen fliehen nach Westeuropa, andere nach Israel. Was sagt eigentlich die Thora zum Umgang mit Flüchtlingen? Der frühere Oberrabbiner der Jüdischen Gemeinde Düsseldorf, Raphael Evers, gibt dazu einen Einblick.
Von: Rabbiner Raphael Evers, Übersetzung und redaktionelle Bearbeitung Dana Nowak
Mittlerweile befinden wir uns in der vierten Woche des Krieges in der Ukraine. Er scheint noch lange nicht vorbei zu sein. In Westeuropa werden wir mit immer mehr Flüchtlingen konfrontiert.
An Purim, dem jüdischen Losfest, das vor etwa 2.500 Jahren entstand, konnten die Juden nirgendwo hin. Sie saßen fest im Großreich des Perserkönigs Ahasveros, das sich zeitweise von Indien bis Äthiopien erstreckte und 127 Provinzen umfasste (Esther 1,1). Haman, der höchste Regierungsbeamte, ordnete laut dem Buch Esther an, dass alle Juden getötet werden sollten. Schließlich wurden sie aus Hamans Klauen gerettet. Nach dem babylonischen Exil zogen sie zurück nach Israel. Vom persischen König Kyros hatten sie die Erlaubnis erhalten, den Tempel wieder aufzubauen.
Vor 3.334 Jahren verließen wir Juden Ägypten. Der Pharao hatte nach zehn Plagen genug von uns. Wir wurden aus Ägypten verjagt. Jedes Jahr gedenken wir dieses Auszugs, indem wir eine Reihe wesentlicher Elemente des historischen Geschehens wieder erleben. In der ersten Nacht des Pessachfestes essen wir ungesäuertes Brot, Matzen, um der Sklaverei und Unterdrückung, aber auch der Befreiung zu gedenken. Die Befreiung erfolgte so abrupt, dass die Juden keine Zeit hatten, den Teig aufgehen zu lassen: „Du sollst kein Gesäuertes dazu essen. Sieben Tage sollst du Ungesäuertes essen, Brot des Elends – denn in Hast bist du aus Ägyptenland geflohen –, auf dass du des Tages deines Auszugs aus Ägyptenland gedenkst dein Leben lang.“ (Deuteronomium 16,3) Wir essen Maror oder Meerrettich, weil alles so traurig und bitter war. Aber am Sederabend trinken wir auch vier Becher Wein, weil wir dankbar sind, frei zu sein und ein jüdisches Leben zu führen. Offenbar ist es wichtig, sich ab und zu daran zu erinnern, dass wir alle manchmal ein bisschen „Flüchtling“ sind. Dann sehen wir zwar die negativen Punkte, vergessen aber nicht, dass es auch Lichtblicke gibt.
Die aktuelle Flüchtlingsproblematik
Das aktuelle europäische Flüchtlingsproblem hat zu viel Mitgefühl geführt, aber auch Angst ausgelöst. Westeuropäische Länder haben ihre Grenzen geöffnet und echte Hilfe versprochen, anders als bei unseren Großeltern während der Schoah. Hat Westeuropa endlich etwas aus der Geschichte und aus der Thora gelernt? Wie gehen wir als Juden mit der Flüchtlingsproblematik um? Es gibt zweifellos eine klare Richtlinie in der Thora: „Du sollst einem Gast nicht Unrecht tun und ihn nicht unterdrücken; denn ihr wart Gast im Land Ägypten.“ (Exodus 22,21) Wir dürfen Flüchtlingen kein Unrecht tun. Wir dürfen sie nicht ihrem Schicksal überlassen. Wir müssen ihnen helfen und sie beherbergen.
Aber die Thora ist auch sehr sensibel für das psychologische Wohlbefinden von Flüchtlingen. Im Talmud wird „Unterdrückung“ auch mit „mit Worten zermalmen“ erklärt. Verletzen, beschimpfen oder als verkappte Kriminelle abtun kommt nicht in Frage. Es ist nicht erlaubt, Flüchtlinge zu beleidigen. Doch das passiert leider viel zu oft. Unbekannt macht ungeliebt. Die Flüchtlingskrise ist ein Moment der humanen Wahrheit in der Geschichte Europas. Sie ist eine enorme moralische Herausforderung.
Letztlich geht es um unser Mitgefühl und unsere Selbstaufopferung. Das winzige Israel hat schon immer viele Flüchtlinge aufgenommen. Die Menschen befürchteten einen wirtschaftlichen Niedergang. Aber wie durch ein Wunder wächst die israelische Wirtschaft immer noch.
Ist es erlaubt, Flüchtlinge auf mögliche terroristische oder andere unlautere Absichten hin zu untersuchen? Ja, unbedingt! Sobald die erste Notversorgung erfolgt ist, hat jedes Land das Recht und die Pflicht, seine eigene Sicherheit zu gewährleisten. Hintergrundrecherchen sind absolut nicht verkehrt. „Wenn jemand um Essen bittet, gib ihm sofort etwas zu essen. Vielleicht ist er wirklich am Verhungern. Dann forsche nach, damit du nicht betrogen wirst.” (Talmud)
Moralische Forderungen
Können wir Forderungen an Flüchtlinge stellen? Ja, unbedingt, und zwar auch moralische Forderungen. Als die Juden fünf Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung ins Exil nach Babylonien geführt wurden, erhielten sie vom Propheten Jeremia im Namen Gottes einen gut gemeinten Auftrag: „Sucht aber das Wohl der Stadt, in die ich euch in die Verbannung geschickt habe, und betet für sie zum Herrn; denn in ihrem Wohl werdet ihr euer Wohl finden“. (Jeremia 29,7)
Das bedeutet: willkommen sein, sich beteiligen, sich integrieren, aber die eigene Identität bewahren. Seine Gefühle mitteilen, aber nicht in einer aufrührerischen Sprache gegen das Gastland sprechen. Teil der Gesellschaft werden, sein neues Heimatland mit den schönen kulturellen Aspekten bereichern, die man mitbringt, und sich an der Entwicklung seines neuen Umfelds beteiligen.
Das biblische Prinzip der Armutsbekämpfung unter allen finanzstarken Bürgern bedeutet eine proportionale Verteilung der Flüchtlinge auf Westeuropa. Nun ist Westeuropa eine Einheit, die proportionale Verteilung ist eine moralische Pflicht. Das Flüchtlingsproblem ist letztlich die Frage nach unserer Gastfreundschaft und Selbstaufopferung.
Rabbi Raphael Evers war Oberrabbiner in Düsseldorf. Nach seinem Eintritt in den Ruhestand im Sommer 2021 machten er und seine Frau Alijah nach Israel.