Im vergangenen Oktober hat mir ein 94-jähriger Patient von mir Nüsse von seinem Walnussbaum geschenkt. Er erzählte mir, dass der Baum mehr als 100 Jahre alt sei. Und noch nie habe es so viel Nüsse wie in diesem Jahr gegeben. Meine Gedanken wandern zu Karol Mannheimer. Einer Jüdin, die gerade ihren 98. Geburtstag gefeiert hat, und deren Leben so reiche Früchte trägt. Von ihr möchte ich an dieser Stelle berichten.
Karol Mannheimer wurde am 1. Oktober 1924 in Worms geboren. Sie ist Nachfahrin einer jahrhundertealten jüdischen Familiendynastie in Worms. Die Gräber ihrer Vorfahren sind heute noch auf dem jüdischen Friedhof der Stadt zu finden. Karol wuchs in Oppenheim auf, dorthin hatte ihr Vater geheiratet. Die Familie besaß dort eine große Weinkellerei und ihre Besitztümer ersteckten sich über drei Straßen.
Als ich Karol in ihrer Wohnung in Tekoa in Israel besuche erzählt sie mir von ihrer Kindheit und davon, was sie als Kind in der Reichspogromnacht im November 1938 Schreckliches erlebt hat. 1931 wurde sie eingeschult, vier Jahre lang war sie in der Grundschule. Schon dort war die Atmosphäre geprägt vom Hass der Deutschen auf die Juden. Karol zeigte mir auf einem Foto der ersten Klasse, wie das Mädchen neben ihr sich abwendet und ihr nicht die Hand gibt. „Ein sechsjähriges Kind weigert sich, einem jüdischen Mädchen die Hand zu reichen. Das war meine Schulzeit“, erzählt Karol.
Später im Gymnasium wurden nur deshalb vier jüdische Kinder aufgenommen, weil deren Väter im Ersten Weltkrieg gekämpft hatten und verwundet worden waren. Karols Vater war mit einem steifen Arm aus dem Krieg zurückgekommen. Von Lehrern und Mitschülern wurden die jüdischen Kinder unfreundlich und demütigend behandelt. Den Klassenkameraden war es verboten, mit ihnen zu sprechen. Wer es trotzdem tat und dabei erwischt wurde, wurde bestraft.
Die Reichspogromnacht
Über die Pogromnacht sagt Karol: „Am 9. November 1938 war ich am Morgen mit meinem Cousin und einem kleinen Mädchen in Oppenheim unterwegs als wir plötzlich sahen, dass die Synagoge brennt. Wir sind schnell nach Hause und haben es erzählt. Am Nachmittag kam die Polizei und hat meinen Vater und meinen Bruder verhaftet. Die SS hat alle jüdischen Männer am Abend barfuß durch die Straßen von Oppenheim gejagt. Ich war mit meiner Mutter und mit meiner Oma allein zuhause als wir hörten, wie SS- Männer versuchten, unser Haus zu stürmen. Über die Eisentür unseres Haupteingangs schafften sie es nicht und so brachen sie mit ihren Äxten den Hintereingang auf und drangen in unser Haus ein. Wir mussten zuschauen, wie sie alles zerstörten. Das gesamte Mobiliar schlugen sie zusammen, die Polster schlitzten sie auf, das Geschirr warfen sie auf den Boden. Fast das ganze Haus war zerstört und zusammengeschlagen. Es war so schrecklich! Wir saßen in einem zerstörten Heim.
Nachts gegen zehn kamen nochmals 15 Nazis und zogen meine Mutter in unsere Weinkellerei. Dort öffneten sie alle Weinfässer und unser gesamtes Geschäft war in einem kurzen Moment ruiniert. Ich hatte nicht geglaubt meine Mutter nocheinmal zu sehen, aber sie kam Stunden später nach oben und war völlig zerstört. Am nächsten Morgen kamen mein Vater und mein Bruder zurück. Der Chef der Polizei, ein guter Freund meines Onkels, hatte sie verhaften lassen, um sie vor der SS zu schützen. Das haben wir erst später erfahren und verstanden. Aber auch die SS kam am nächsten Tag wieder und hat meinen 16-jährigen Bruder zusammen mit seinem gleichaltrigen Freund und vier weiteren Männern aus Oppenheim nach Buchenwald abtransportiert.“
Karol kam mit dem Kindertransport am 5. Januar 1939 nach England. Nach dem Krieg ging sie in die Schweiz. Ihre Eltern kamen zuerst in das Ghetto von Mainz und dann nach Theresienstadt. Sie haben die Schoah als gebrochene Menschen überlebt und gingen dann über die Schweiz zusammen mit Karol nach Amerika. Ihr Bruder kam nach zwei Monaten aus Buchenwald frei und kam auch nach England. Er überlebte den Krieg nicht. Er war auf einem englischen Schiff, das von den Deutschen bombardiert wurde und unterging.
Seit 1983 lebt Karol im Kreis ihre Familie in Israel. Leah und Deborah sind ihre Töchter, mittlerweile hat sie acht Enkelkinder und 17 Urenkel. Karol ist nun fast 100 Jahre alt und die Früchte ihres Lebens werden immer mehr!
Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 131. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen: https://csi-aktuell.de/israelaktuell. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.