Zeitzeugen zum Jom-Kippur-Krieg: „Plötzlich waren alle Soldaten“ (1)

Zeitzeugen zum Jom-Kippur-Krieg: „Plötzlich waren alle Soldaten“ (1)

„Wir haben keinen anderen Ort, wo wir hingehen können - das ist unser Land", sagt Tamar, deren Familie schon mehrere Kriege in Israel miterlebt hat. Alle Fotos: privat

Der Jom-Kippur-Krieg 1973 hat sich als tiefer Schmerz in die israelische Seele eingegraben. Für Israel völlig unerwartet hatten syrische und ägyptische Truppen den jüdischen Staat an seinem höchsten Feiertag überfallen. Israel stand am Abgrund. Christen an der Seite Israels (CSI) hat Zeitzeugen gefragt, wie sie diesen Tag erlebt haben. In dieser dreiteiligen Serie erzählen sie ihre bewegenden Geschichten.

Tamar Millner, die eigentlich von allen bei ihrem Spitznamen „Tami“ gerufen wird, war am 6. Oktober 1973 mit zwei ihrer vier Kinder allein zuhause in Hadera. Ihr Mann arbeitete bei Neft, einer Ölförderungsfirma im Sinai, nahe der ägyptischen Grenze. Zu weit weg von zuhause, um am Feiertag Jom Kippur bei seiner Familie sein zu können. Ihr erster Sohn, Ofer, war 18 Jahre alt und kurz davor, die erste Phase seines Militärpflichtdienstes zu beenden, das dreimonatige Basistraining „Tironut“.

Ab dem Moment, als um 14 Uhr desselben Tages plötzlich die Sirenen losgingen, war Chaos. Man schaltete das Radio ein, um zu hören, was passiert war: „Wir wurden angegriffen, Israel wurde angegriffen!“. Alle rannten nach Hause. „Wie aufgescheuchte Ameisen“, beschreibt es Tami, „ein wildes Durcheinander“. Einige der Soldaten, so auch Tamis Mann, konnten nicht mehr nach Hause kommen. Sie wurden direkt von ihrem Arbeitsplatz als Reservisten eingezogen. Tamis Sohn Ofer war plötzlich nicht mehr im Basistraining, sondern vollwertiger Soldat. Ihr zweiter Sohn, Roey, wurde wie viele minderjährige Jugendliche zur „Mischmar Ezrachi“ eingezogen, der Bürgerwehr ihrer Stadt.

Der große Schock

„Plötzlich waren alle Soldaten“, erzählt Tami. Sie erinnert sich gut an den Tag des Kriegsbeginns: „Der Jom-Kippur-Krieg war eine Überraschung, ein Schock … und es war eine lange Tragödie!“ Tami erzählt, dass es nicht nur die drei Wochen Krieg waren, sondern dass es durch die weitreichenden Grenzverschiebungen ein viel längeres Geschehen war.

Der Kriegsverlauf und das Kriegsende seien nicht zu vergleichen gewesen mit dem Sechs-Tage-Krieg 1967, den die Familie auch schon miterlebt hatte. Von der damaligen Euphorie über den Zugewinn großer Gebiete und die Rückeroberung Jerusalems sei nun nichts mehr zu spüren gewesen. „Es war ein sehr, sehr schwerer Krieg.“ Gegen 22 Uhr abends wurden Freunde von Tami aus Hadera als Reservisten an die syrische Grenze abgezogen. „Sie saßen alle in ihrer Uniform im Auto. Ich habe ihnen noch eine Tasse Kaffee oder Tee gemacht und ihnen dann alles Gute gewünscht. Sie fuhren mit der Überzeugung, dass auch dieser Krieg nach sechs Tagen vorbei sein würde. Eine Woche später habe ich sie im Krankenhaus in Haifa besucht, zwei von ihnen waren schwer verletzt worden.“

„Unser Sohn wird mal im Militärorchester spielen“

„Weißt du, jeder, der in Israel geboren wird, musste irgendwann mal einen Krieg miterleben“, erzählt Tami. Als ihr Sohn Ofer ein Jahr alt war, kam es zur Suezkrise und dem Sinai-Krieg. „Damals dachten wir, dass er später, wenn er 18 Jahre wäre, seinen Pflichtdienst im Militärorchester verrichten wird. Wir haben nicht gedacht, dass er mal kämpfen muss. Stattdessen musste Ofer im allerschwersten, im allerschlimmsten Krieg kämpfen.“

Tamar mit Enkelin Rubin.

Inzwischen hat Tami sechs Enkelkinder und einen Urenkel: „Wir haben keinen anderen Ort, wo wir hingehen können, wir haben das schon versucht, aber das ist unser Land – das finden wir auch so im Tanach (Hebräische Bibel des Judentums)! Wir kämpfen um unser Leben. Wenn wir nicht kämpfen, wird es uns nicht mehr geben.“

Hintergrund: Der Jom-Kippur-Krieg 1973

Am 6. Oktober 1973 hielt Israel seinen höchsten Feiertag Jom Kippur. Das gesamte öffentliche Leben stand still, auch Rundfunk und Fernsehen sendeten nicht. An diesem Tag griffen ägyptische und syrische Truppen Israel an – der Angriff traf den jüdischen Staat völlig unerwartet und unvorbereitet. Ziel der Allianz war es, die von Israel im Sechs-Tage-Krieg 1967 eroberten Golanhöhen und die Sinai-Halbinsel zurückzugewinnen. Verhandlungen über eine Rückgabe lehnten arabische Staaten kategorisch ab.

Aufgrund des strengen Feiertages und einer Fehleinschätzung der Vorzeichen durch ihre Regierung erlitten die Israelis zunächst hohe Verluste – Israel stand einen Moment lang am Rande einer Niederlage. Doch nach zwei Tagen kontrollierte die israelische Armee wieder die Golanhöhen und drang zudem auf ägyptisches und syrisches Staatsgebiet vor.

Der Krieg endete am 24. Oktober 1973 mit einem Waffenstill stand. Auf Druck der USA nahmen Israel und Ägypten im Oktober des gleichen Jahres Friedensverhandlungen auf, die am 11. November 1973 mit einem Waffenstillstandsabkommen besiegelt wurden und 1979 zu einem Friedensabkommen führten. In der Folge gab Israel die Sinai-Halbinsel an Ägypten zurück und wurde im Gegenzug von Ägypten als Staat anerkannt – es war die erste offizielle Anerkennung Israels durch einen arabischen Staat.

Ein nationales Trauma

Der Jom-Kippur-Krieg war der vierte arabisch-israelische Krieg im Nahostkonflikt und auf beiden Seiten mit hohen Verlusten verbunden. Etwa 2700 Israelis sowie mehr als 18.000 Ägypter und Syrer starben. Israels damalige Premierministerin Golda Meir trat aufgrund dessen und der Vorwürfe der außenpolitischen Fehleinschätzung im April 1974 von ihrem Amt zurück. Es blieb eine tiefe Traumatisierung der israelischen Öffentlichkeit, die ihre Armee bis dahin für unbesiegbar gehalten hatte.

Der Versöhnungstag Jom Kippur gilt als der höchste Feiertag des Judentums. Er ist ein Tag der Einkehr und Besinnung und beendet eine zehntägige Zeit der Buße, in der die jüdische Gemeinschaft aufgerufen ist, sich mit ihren Mitmenschen zu versöhnen. An Jom Kippur wird streng gefastet und das öffentliche Leben steht für rund 25 Stunden still.

Nach dem jüdischen Kalender wird Jom Kippur am 10. Tag des Monats Tischri begangen und fällt im gregorianischen Kalender auf einen Tag im September oder Oktober.

Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 134. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.

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