Bis die israelische Regierung nach dem Hamas-Überfall vom 7. Oktober ein Ohr für die Angehörigen der Geiseln hatte, vergingen Wochen. Die Ministerien waren schlicht überfordert: Es galt, die Terroristen unschädlich zu machen, einen Krieg vorzubereiten, Hunderte Tote zu bergen, Zehntausende Menschen zu evakuieren und mehr als 240 Geiseln zu befreien. In einem Akt der Verzweiflung begannen die Betroffenen schließlich, sich selbst zu organisieren – was heute ein riesiges Zentrum mit Tausenden internationalen Freiwilligen mitten in Tel Aviv ist, begann in einer kleinen Garage in Südisrael.
Dudis Tochter hat das Hamas-Massaker vom 7. Oktober auf dem Nova-Festival überlebt. Aber innerlich ist sie tot. Sie hat unter den Leichen ihrer Freunde ausgeharrt, bis das Morden, das Vergewaltigen, das Foltern vorbei war. Dann hat sie sich auf eine Straße geschleppt und ist kollabiert. Polizisten brachten sie nach Ofakim, auf eine Polizeistation, wo die Lebenden und die Toten eingesammelt wurden. Es herrschte Chaos. Dudis Tochter – wieder vor einem Berg von Leichen.
Dudi möchte nicht, dass der Name seiner Tochter genannt wird. Er hofft, dass sie zurückkehrt zu den Lebenden, dass ihre Seele wieder heil wird – irgendwie. Dass sie nicht ganz zerbricht. Dudi nennt Zahlen: Mehr als 20 Überlebende des Festivals haben versucht sich das Leben zu nehmen. Fünf Seelen sind heimgegangen. Dudi erreichen nach dem 7. Oktober unzählige tragische Geschichten. Geschichten von entführten Söhnen, vergewaltigten Töchtern, ermordeten Vätern. Er möchte etwas tun, es dauert ihm zu lange, bis die Regierung handlungsfähig ist. Gemeinsam mit Dutzenden Freiwilligen richtet er eine Anlaufstelle ein, sie starten zu Hause, in einer Garage. Hier können sich Betroffene sammeln, Informationen austauschen.
Sicherheitsfirma spendet Gebäude
Wenig später wird das Zentrum nach Tel Aviv verlegt, in ein Gebäude, das die Sicherheitsfirma Checkpoint geräumt und kostenlos samt Einrichtung und Technik zur Verfügung gestellt hat. Das „Forum für die Familien von Geiseln und vermissten Personen“ wird die Anlaufstelle für Angehörige der Entführten.
Anfang Januar wird es bereits von rund 17.000 Freiwilligen auf der ganzen Welt unterstützt. Psychologen stehen für Gespräche zur Verfügung, Anwälte beraten in Rechtsdingen. Andere stehen den Familien bei der Bewältigung der Bürokratie zur Seite, üben national und international Druck aus oder starten Kampagnen, entwerfen Poster, T-Shirts, Verteilmaterial. Sie machen in den Sozialen Medien auf das Schicksal der Geiseln aufmerksam und organisieren Treffen der Angehörigen mit Politikern weltweit. Hochrangige Vertreter aus Politik und Wirtschaft kommen in das Zentrum nach Tel Aviv, um mit den Angehörigen der Entführten zu sprechen und sich ein Bild zu machen – von Bundesaußenministerin Annalena Baerbock über US-Präsident Joe Biden bis hin zu X-Chef Elon Musk.
Einer der Freiwilligen ist Shay. Er führt internationale Delegationen durch das Zentrum und vermittelt Treffen mit den Angehörigen. „Es hat fast drei Wochen gedauert, bis die Regierung nach dem 7. Oktober reagiert hat – niemand von den Behörden hat bei den Betroffenen angerufen, also haben sie sich selbst organisiert“, erklärt er. Das Zentrum fokussiere sich im Kampf um die Freilassung der Geiseln vor allem auf Deutschland, da es großen Einfluss in der Welt habe. Im Vordergrund stehe, was die Angehörigen möchten. Diese entschieden über sämtliche Kampagnen, Auftritte und Forderungen im Abstimmungsverfahren, so Shay.
Unermüdlich im Einsatz für die Freilassung der Geiseln ist auch Malki. Sein Sohn Omer befindet sich zum Zeitpunkt des Redaktionsschlusses dieser Zeitung noch immer in den Händen der Hamas. Auch er war auf dem Nova-Festival. „Omer liebt das Leben. Er war zur falschen Zeit am falschen Ort. Zunächst konnte er mit Freunden entkommen. Wir haben noch mit ihm telefoniert. Mit jedem Anruf wurde er panischer. Er sagte dann, dass sein Freund Ori, der schon in Sicherheit war, mit einem Auto zurückkomme, um ihn aus seinem Versteck zu holen. Er schickte uns seinen Livestandort. Dann sahen wir, dass das Auto in Richtung Gaza fuhr. Wir haben gedacht, das kann nicht sein – da gibt es eine Mauer, tonnenweise Elektronik. Aber es war leider die Wahrheit. Irgendwann brach der Kontakt ab.“
Malki wollte etwas unternehmen, fuhr selbst in Richtung Süden. Klapperte verschiedene Krankenhäuser ab. Vergeblich, von seinem Sohn fehlte jede Spur. Bis zum Abend, als die Hamas ein Video veröffentlichte. Darin war Omer zu sehen, gefesselt auf einem Pickup in Gaza. „Das war der schlimmste Moment in meinem Leben. Meine Frau und meine beiden anderen Kinder haben geweint. Mein erster Satz war: ,Wir tun alles, damit er von der Hamas freikommt‘“, erzählt Malki. Am nächsten Tag schloss er sich Dudi und den anderen Freiwilligen an, um das Zentrum aufzubauen.
Die Firma Checkpoint hat dem Forum für die Angehörigen der Geiseln ihre Räume zunächst für ein Jahr zur Verfügung gestellt. „Wir hoffen, dass wir es nicht so lange brauchen“, sagt Malki.
Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 136. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.