75 Jahre Israel: 3000 Jahre Fluch und Segen der jüdischen Weltgeschichte

75 Jahre Israel: 3000 Jahre Fluch und Segen der jüdischen Weltgeschichte

Michael Wolfssohn war Hauptredner auf der Jubiläumskonferenz von Christen an der Seite Israels im März in Neu-Ulm. Foto: CSI

Von Michael Wolffsohn

Eine kommentierende Analyse

Können Juden Staat? Oh ja – und doch sind in Israels fünfundsiebzigstem Festjahr mehr denn je Zweifel angebracht. Kein Zweifel: Was Israels Gesellschaft, Kultur, Wissenschaft, Wirtschaft, Rechtswesen, Militär und sogar Politik in diesem, historisch bemessen, welt- und judengeschichtlichen Mini-Zeitraum vollbrachten, grenzt an Wundersames. Vor 75 Jahren Entwicklungsland, heute hochentwickelt, teils Weltspitze.

Jubiläumsbezogene Betrachtungen tendieren meistens eindimensional zu Jubel und Fokussierung auf das Individuelle. Wichtiger sind das Allgemeine, Vielschichtige oder Widersprüchliche. 75 Jahre Israel dokumentieren nicht zuletzt die ungeheuerlichen Integrations-, Verteilungs- und Prozedurprobleme, mit der selbst jede scheinkonsensuale beziehungsweise scheinhomogene Gesellschaft konfrontiert ist. Der verbissene, geradezu hasserfüllte Kampf um das Wesen der Demokratie ist ebenfalls alles andere als typisch israelisch. Konkret: Ist die bei demokratischen Wahlen jeweils unterlegene Minderheit bereit, das Ergebnis in allen Konsequenzen, also den Macht- und damit Verteilungsverlust, zu akzeptieren?

Nicht das rechtsreligiöse Netanjahu-Lager im liberalen Interregnum Benet / Lapid 2021/22. Es sabotierte mit nahezu allen denkbaren parlamentarischen Tricksereien. Das Anti-Netanjahu-Lager, eher mitte-links, mobilisierte die Massen bis 2021 und aktiviert sie seit Ende 2022 vorwiegend außerparlamentarisch. Auch die geistige sowie politische Auseinandersetzung um das Gewicht der Judikative in Theorie und Praxis der Gewaltenteilung ist keineswegs typisch israelisch oder gar neu. Sie reicht bis ins 18. Jahrhundert zurück. Siehe Montesquieu oder die amerikanischen „Federalist Papers“.

Die jüdische Welt – seit jeher gespalten

Israel ist, wie die Jüdische Welt, seit jeher gespalten. Schon die biblisch dargebotene, jüdische Einheit des Davidischen Reiches währte nur bis zum Tod seines Sohnes Salomon (circa 930 v. Chr.). Danach bekriegten sich die beiden jüdischen Königreiche „Judäa“ und „Israel“ in der Epoche des Ersten Tempels (um 950 – 586 v. Chr.). Heute, wie seit 721 v. Chr. (assyrisches Exil), ist die augenfälligste Spaltung die zwischen Zion und der Diaspora. Wie jetzt lebten mehr Juden in der Diaspora. Weder in Zion (Israel) noch in der Diaspora gab oder gibt es eine Einheitsfront „der“ Juden. Sie spukt nur als Hirngespinst in den Köpfen der Judenfeinde. Fundamentale innerjüdische Spannungen und Spaltungen auch in der Epoche des Zweiten Tempels (518 v. Chr. – 70 n. Chr.). Nicht anders in zweitausend Diasporajahren seit dem Verlust jüdischer Staatlichkeit im Jahre 70 n. Chr.

Innerjüdische Kämpfe und Kriege sind seit jeher Fluch und Segen jüdischer Weltgeschichte. Fluch, weil Selbstzerfleischung. Segen, weil alle Akteure stets ihr ganzes Potential nutzen und weiterentwickeln mussten, um nach außen oder innen zu überleben oder zu obsiegen. Antisemitismus und innerjüdische Auseinandersetzungen, auch gewalttätige, sind seit dreitausend Jahren der hohe Preis, den „die“ Juden und „die“ Israelis seit 1948 für ihre enormen wissenschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und, daraus abgeleitet, militärischen Erfolge bezahlen.

Doch ist nicht zudem jede plurale Gesellschaft gespalten? Schon die fast homogene ost- und teils mitteleuropäische (aschkenasische) „Gründer-Aristokratie“, das Erste Israel, war untereinander höchst zerstritten. Für die zionistischen Veteranen – für die linken noch mehr als für die rechten – waren die seit 1948 ins Land strömenden orientalischen Juden nur „Juden zweiter Wahl“. Erstens als Orientalen und zweitens, weil sie, anders als die große Mehrheit der Gründeraristokratie, religiös oder gar orthodox waren und sind. Anders als damals sind jüdische Orientalen plus Religiöse seit dem ersten Wahlsieg von Likud und Religiösen unter Menachem Begin im Jahre 1977 Mehrheit und nicht mehr Minderheit – trotz etwa einer Million aschkenasischer Einwanderer aus der Ex-Sowjetunion seit 1974/1990. Die jüdischen Orientalen und Religiösen sind nämlich noch kinderreicher als die ebenfalls geburtenfreudigen Aschkenasim.

Die Regierungskoalition – ein Spiegel der Demografie

Das Zweite Israel spielt inzwischen die erste Geige. Die neue Netanjahu-Koalition ist daher ein Spiegel der Demografie und Soziologie Israels, und der Likud die einzige personelle und ideologische Brücke zwischen Teilen des Ersten und Zweiten Israels. 2020/21 und besonders 2023 versuchte das bei Wahlen mehrfach unterlegene Erste Israel „sein Israel“ durch Großdemonstrationen zurückzuerobern. Diasporajuden und westliche Nichtjuden finden das sympathisch, es ist jedoch nostalgisch. Auch historisch ironisch. Die Politik wurde dadurch von den Institutionen auf die Straße verlagert. Und zwar von den Institutionen, die das Erste Israel geschaffen hatte. Auch in bester demokratischer Absicht entfaltet aber jede Ent-Institutionalisierung eine für die Demokratie gefährliche Eigendynamik.

Weil immer noch unverzichtbar, sind Öl und Erdgas „Gold“ wert, ist der islamisch nahöstliche Raum – schon lange vor Israels Gründung – geostrategisch bedeutend und deshalb umkämpft. Israel besteht als einziger nichtislamischer Staat in diesem geostrategisch so schwergewichtigen Nahen Osten. Von Anfang an war daher der jüdische Staat ein Störfaktor für alle Staaten, die islamisch Nahost als strategischen Partner in irgendeinem für sie lebenswichtigen Bereich benötigten. Ein eigener jüdischer Staat, der sichere Hafen, diese Lebensversicherung, so das Axiom des Zionismus, würde die zweitausendjährige Schreckensgeschichte beenden. Irrtum. Das Überleben Israels blieb gefährdet. Im Zeitalter der Ent- und Postkolonialisierung nach 1945 scheint manchen Israels Unabhängigkeit der Gnade der britischen Kolonialisten zu verdanken zu sein.

Michael Wolffsohn (M.) mit dem CSI-Vorsitzenden Luca Hezel (r.) und dem Leiter des CSI-Bereichs Politik und Gesellschaft, Josias Terschüren. Foto: CSI

Ja, 1917/20 hatte die britische Kolonialmacht den Zionisten eine „Heimstätte“ (keinen Staat!) in Palästina versprochen. Sie brach das Versprechen. Daraufhin begann 1944/46 die Zionistenbewegung ihren antikolonialistischen Kampf. Sie gewann 1948 – um sofort danach ums Überleben in der islamischen Welt kämpfen zu müssen. Teil 1 der Tragödie. Teil 2: Die Palästinenser beanspruchen seit jeher dasselbe Territorium. Deshalb steigerten sie 1947/48 ihren Krieg gegen die Zionisten. Sie verloren und riefen ihre arabischen Brüder zu Hilfe. Die kamen, verloren – aber nahmen, genauer besetzten, völkerrechtswidrig das Westjordanland und Ost-Jerusalem (Jordanien) sowie den Gazastreifen (Ägypten). 1967, im Sechs-Tage-Krieg, verloren sie diese Teile Palästinas an Israel. Nun wurde Israel dort Besatzungsmacht.

„Land für Frieden“. Das bot Israel 1967 sofort an. Dreimal nein, die Antwort der Arabischen Liga. Ebenfalls 1967. Im Friedensvertrag mit Ägypten 1979 gab Israel den Sinai zurück – und bekam Frieden. Im Jahre 2000 räumte Israel den 1978 besetzten Süd-Libanon. Frieden? Raketenterror. Im Jahre 2005 räumte Israel den Gazastreifen. Seitdem ebenfalls Raketenterror. Daraus zog die Mehrheit der Israelis, bezogen auf das Westjordanland, diese Lehre: Wenn schon kein Frieden für Land, dann lieber das (Westjordan-)Land behalten und besiedeln. Emotional nachvollziehbar die Reaktion der Palästinenser: Wut, Verzweiflung und Terror als Waffe des konventionell Unterlegenen. Rational kontraproduktiv, weil der konventionell Stärkere, Israel, seinerseits reagiert: Mit überlegener Gewalt und politisch ideologischer Verhärtung. Ablesbar an Wahlergebnissen und Koalitionen. Welthistorisch eine ganz neue Rolle „der“ Juden. Aus dem macht-, weil staatenlosen David wurde im eigenen Staat ein Goliath, und Riesen sind selten Sympathieträger.

Macht durch Wissen

Wodurch wurde der kleine David ein Goliath? Durch Wissen. Wissen ist Macht, und seit etwa 2500 Jahren ist Wissensvermittlung, zuerst personell-familiär verankert, dann institutionell, zentraler Bestandteil, Wert, Wort und Tat in der jüdischen Welt. Ebenso in Israel. Die wissenschaftlichen, wirtschaftlichen, kulturellen und sicherheitsbezogenen Spitzenleistungen, die Israel in 75 Jahren erreicht hat, sind auf die gesamtjüdische Bildungstradition zurückzuführen. Von diesen Leistungen möchten inzwischen auch leistungsdefizitäre arabische Nachbarn profitieren und deshalb ihre Beziehungen zu Israel normalisieren. Sie setzten ihre propalästinensischen Lippenbekenntnisse fort, lassen sich jedoch von ihren nationalstaatlichen Interessen leiten. Daraus folgt: Die Palästinenser sind ihrerseits ein regional- und weltpolitischer Störfaktor.

Der jüdische Staat – unbeliebt, doch gebraucht

Die innovativen wissenschaftlichen, wirtschaftlichen und hocheffektiven Sicherheitsleistungen Israels werden, mehr denn je, auch dort nachgefragt, wo diesbezügliche Defizite bestehen. Nicht zuletzt in Westeuropa, besonders Deutschland. Hier ist der jüdische Neu-Goliath zwar höchst unbeliebt – aber er wird gebraucht. Wir erkennen im Neuen das alte, judenhistorische Muster: Wenn man Juden oder Israelis braucht, geht man mit ihnen pfleglich um.

Woher, besonders in Westeuropa, die fundamentale Unbeliebtheit des jüdischen Staates? Vier Stichworte. Anders als in Westeuropa verehren die jüdischen Israelis nach zweitausend staatslosen jüdischen Jahren ihren Staat nahezu ikonisch. Zweitens hat für sie daher sowie aus militärischen Gründen das staatliche Territorium als Land eine ideell und materiell existentielle Bedeutung. Zumindest bis zu Putins Ukrainekrieg verbanden Westeuropäer Land als politischen Faktor eher mit der NS- „Blut-und-Boden“-Verklärung. Drittens ist Westeuropäern das volksbezogene Wir von Juden und Israelis suspekt. Viertens fällt es den mehrheitlich religionsfernen Westeuropäern (nicht nur Juden gegenüber) schwer, Religion als politischen Faktor hinzunehmen. Schon vor der jetzigen israelischen Albtraumkoalition lebten circa zehn Prozent der Pass-Israelis im Ausland. Vornehmlich in den USA und zunehmend in Deutschland. Die muslimischen Neubürger Europas haben ihren traditionellen Antijudaismus und Antiisraelismus mitgebracht. Sie verstärken Europas Juden- und Israelfeinde von rechts und links.

Diese nun nicht mehr zwei-, sondern dreischichtige judenfeindliche Allianz bedeutet für „die“ Diaspora-Juden: Gefahr in Sicht. Die Alternative? Israel. Was birgt die Zukunft Israels? Erstens bewirkt die vielfache Spaltung Israels einen starken Exodus der mehrheitlich aschkenasischen, weltlichen Bildungs- und Wirtschaftselite. Doch der in Europa, auch in den USA, zunehmende Antisemitismus mit seiner antizionistischen Variante bedroht das alte und neue aschkenasische Diasporajudentum. Kein neuer Holocaust, doch ideell und existentiell eine Katastrophe. Ergo ein neuer Exodus: die Rückkehr der Aschkenasim in ein dann noch orientalischeres und religiöseres Israel – sofern es trotz eines bald nuklear gerüsteten Iran noch besteht.

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus der Festrede Michael Wolffsohns von der CSI-Jubiläumskonferenz Ende März in Neu-Ulm. Eine ausführlichere Fassung des Artikels erschien in der „Neue Züricher Zeitung“ (NZZ). Der Historiker Prof. Dr. Michael Wolffsohn ist unter anderem Autor der Bücher „Eine andere Jüdische Weltgeschichte“ (2022) und „Ewige Schuld?“ (2023).

Dieser Artikel erschien zuerst in unserer Zeitung „Israelaktuell“, Ausgabe 133. Sie können die Zeitung hier kostenlos bestellen. Gerne senden wir Ihnen auch mehrere Exemplare zum Auslegen und Weitergeben zu.

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