In vielen Städten Deutschlands werden zum 9. November, dem Gedenktag an die Reichspogromnacht 1938, die vor den ehemaligen Wohnhäusern jüdischer Mitbürger im Boden eingelassenen Stolpersteine geputzt. Hinter jedem Stolperstein steht eine reale Person, eine Familie, die aus ihrer deutschen Nachbarschaft herausgerissen wurde. Viele von ihnen wurden ermordet; einige wenige konnten fliehen. Manchmal passiert es, dass die Überlebenden zurückkommen und ihre Geschichte selbst erzählen können.
Sieben Jahre alt war „Hansi”, als sie kamen, um seinen Vater abzuholen – wenige Stunden, nachdem sie die heiligen Bücher verbrannt hatten. Die Rosenbergs wohnten in Magdeburg, gleich neben der prächtigen Synagoge, denn Hansis Vater, Rudolf Rosenberg, war jüdischer Religionslehrer und Kantor. Das hatte er von der Familie seiner Mutter, da waren alle seit Generationen Religionslehrer oder Rabbiner.
„Hansi“ heißt heute „John“. Vor wenigen Monaten kam er mit seinem jüngeren Bruder Horst alias Harry aus einem besonderen Anlass zurück in die Stadt, in der sie die ersten Jahre ihrer Kindheit verbracht hatten. Für die Brüder Hans, Horst und ihre Eltern, Rudolf und Gerta, wurden Stolpersteine verlegt – direkt vor dem Mahnmal, das einmal eine beeindruckende Synagoge gewesen war. Da, wo die Familie einst gewohnt hatte.
„Wir mussten alle auf den Hof raus, um alles mit anzusehen, mitten in der Nacht“, erzählt John. „Erst die Gebetbücher, dann die Thora-Rolle. Alles ging in Flammen auf. Mama hatte Horst auf dem Arm; mich hielt sie an der Hand. ‚Alles kaputt‘, soll ich immer wieder gesagt haben. Sie hat dann einen Mann in Nazi-Uniform gefragt, ob sie uns jetzt umbringen. Der hat nur mit den Achseln gezuckt. Dann haben sie den Innenraum der Synagoge gesprengt.“
Als die Rosenbergs wieder in ihre Wohnung durften, war ihr gesamtes Interieur zerstört. Die Eltern legten eine Matratze für Hans in die Küche und richteten ihm so ein notdürftiges Nachtquartier her. „Am nächsten Morgen bin ich von einem Klopfen an der Tür aufgewacht“, erinnert sich John. „Da sind die Nazis gekommen, um meinen Vater abzuholen. Meine Mutter wollte ihm noch ein Brot machen. Aber so lange wollten sie nicht warten. Also bin ich ihnen dann mit dem Butterbrot für meinen Vater hinterhergerannt.“
Die 125 jüdischen Männer, die in den Nachtstunden vom 9. zum 10. November verhaftet und ins Magdeburger Stadtgefängnis gebracht wurden, rechneten damit, nach kurzer Befragung am Abend wieder zu Hause zu sein. Doch von dort aus wurden sie direkt ins KZ Buchenwald deportiert. Viele begingen Selbstmord. Nach 17 Tagen Haft lebten noch 100 Männer, die zu ihren Familien nach Magdeburg zurückkehrten. Ihnen wurde eine dreißigtägige Frist gesetzt, um Deutschland zu verlassen. Die Rosenfelds flohen nach Rotterdam. Nach einem Jahr Wartezeit bezahlte ihnen jemand die Schiffspassage nach Amerika. Die Mutter und die meisten Geschwister von Vater Rudolf kamen um.
Und nun standen die beiden, John und Harry, an dem Platz, an dem einst ihr Kindheitshaus gewesen war. Umringt – Gott sei Dank – von vielen interessierten Magdeburgern legten sie die ersten Rosen auf die goldenen Stolpersteine. So schloss sich nach 86 Jahren ein Kreis für die Familie Rosenberg. Inzwischen gibt es mehr als 700 Stolpersteine für die meist jüdischen Opfer nationalsozialistischer Verfolgung in Magdeburg.
Die Präsenz einer jüdischen Gemeinschaft in der Landeshauptstadt Sachsen-Anhalts ist älter als die Geschichte Magdeburgs als Residenz des ersten deutschen Kaisers Otto. Mehr als 1000 Jahre liegen ihre Anfänge zurück. Durch viel Auf und Ab – Verfolgung, Vertreibung und Neuanfang – entwickelte sie sich zu einer der größten jüdischen Gemeinden in Mitteldeutschland. Hinter den sozialistischen Plattenbauten des Fermerslebener Wegs befindet sich ein 200 Jahre alter, fast unversehrter jüdischer Friedhof mit mehr als 2000 Grabsteinen: ein großes Freiluft-Geschichtsbuch vieler berühmt gewordener jüdischer Magdeburger.
Kurz nach der offiziellen Stolperstein-Verlegung gab es für die Rosenbergs noch einen Termin: eine Einladung in die neue Magdeburger Synagoge, nur wenige hundert Meter entfernt. Die Synagogengemeinde, die in den 1980ern noch 20 Mitglieder zählte, ist durch den Zuzug von jüdischen Einwanderern aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion wieder auf mehr als 400 Mitglieder angestiegen. Auch an diesem Freitagabend werden in Magdeburg im Rahmen des Gottesdienstes wieder die Schabbat-Kerzen angezündet. Einige der Beter haben einen amerikanischen Akzent, die meisten einen russischen. Und so wird nach der feierlichen Schabbat-Liturgie aufgetischt, was die Küche des osteuropäischen Judentums zu bieten hat.
Der Rabbiner segnet das Brot. John erzählt aus seiner Kindheit. Er erzählt auf Englisch und wird auf Russisch übersetzt – die Muttersprache der meisten Gottesdienstbesucher. Die langen Tische in der erst wenige Monate alten Magdeburger Synagoge werden zu einem Ort, wo Ost und West sich bei ihren gemeinsamen jüdischen Wurzeln treffen.
Gemeindeleiterin Inessa Myslitska, die aus einem Schtetl nahe der ukrainischen Stadt Schitomir kommt, kämpft mit den Tränen, als sie den weitgereisten Gästen für ihr Kommen dankt. „Wir haben die neue Synagoge erst im Dezember bezogen. Alles ist ganz neu. Wir suchen immer die Verbindung zur ursprünglichen Gemeinde. Aber die gibt es nur noch auf dem Papier, im Archiv. Und jetzt kommt Ihr! Ihr seid für uns die lebendige Verbindung zu unseren Wurzeln hier!“
Ein Psalm wird immer am Schluss gebetet: der 126. „Als der HERR das Geschick Zions wendete, waren wir wie die Träumenden …“
Mit freundlicher Unterstützung von Frau Waltraut Zachhuber, Initiatorin und Koordinatorin der Arbeitsgruppe „Stolpersteine für Magdeburg“ und Vorsitzende des Fördervereins „Neue Synagoge Magdeburg“.